Fotos (2): Götting
Pastor Tobias Götting (51) ist seit 2001 Pastor der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Ansgar in Hamburg Langenhorn. Ihn habe ich Anfang Januar 2020 zum Interview getroffen. Ein Gespräch über Wort und Wirklichkeit, Klimawandel und Kontinuum und wie erforderlich es ist, Haltung zu zeigen.
Wenn Sie zurückblicken, welche Begegnungen haben Sie 2019 am meisten berührt?
Ich bin durch meinen Beruf mit sehr vielen Menschen zusammen in den allerschönsten und allerschrecklichsten Momenten ihres Lebens. Da gibt es so viel Berührendes. Zum Beispiel, dass Menschen aus dem Iran fliehen, nur mit einem Neuen Testament unter dem Arm. Und jetzt zu unserer Kirchengemeinde gehören. Oder: Ich durfte einen 25-jährigen, mehrfach körperlich und geistig behinderten jungen Mann taufen. Er sitzt im Rollstuhl, ist dann aber aufgestanden und stellte sich an das Taufbecken. Am Abend sagte die Mutter zu ihm: „Der Tobias hat dich heute getauft.“ Daraufhin fuhr sich ihr Sohn mit der Hand über den Kopf, so als würde er das Wasser darüber träufeln.
Am Heiligabend erhielt ich einen Anruf einer jungen Frau. „Ich bin 30 Jahre alt und allein. Gern würde ich im Seniorenheim jemanden besuchen, der auch allein ist.“ Wir trafen uns und gingen zu einer Bewohnerin. Das war mein Weihnachtsmoment. Und natürlich berühren mich die vielen Trauerfeiern eines Jahres, vor allem jene, wo ich jüngere Verstorbene beerdigen musste - oder mit dem Bestatter ganz alleine war.
Sind anrührende Momente wie diese der Grund, warum Sie Pastor geworden sind?
Ich hatte immer eine Affinität zur Kirche, besuchte schon als kleiner Junge Chor- und Orgelkonzerte. Mein Vater war auch Pastor. Leider habe ich ihn beruflich kaum erlebt, weil ich früh zum Waisenkind wurde. Zunächst wollte ich als „Streetworker“ arbeiten, doch meine Großmutter riet mir zum Studium. Nach Abitur und Zivildienst habe ich dann angefangen, Theologie zu studieren - ein unfassbar tolles Studium!
Warum meinen Sie, glauben Menschen? Und was gibt ihnen der Glaube?
Die Welt ist voller Umbrüche. Vieles, was verlässlich war, bröselt weg. Das Leben ist unübersichtlicher geworden. Man sehnt sich nach kleinen Oasen der Geborgenheit und Konstanz. Wir versuchen, in unserer Gemeinde ein Kontinuum, eine Lebensgemeinschaft zu sein. Der Glaube ist in meinen Augen das Angebot, einen Sinn hinter allem - auch dem Schrecklichen auf dieser Welt - zu ahnen. Ich meine damit sicher nicht, alles schön zu reden, aber dass es doch eine Kraft gibt, die hinter allem steht und uns hält.
Ihre Kinder sind 13 und 15 Jahre alt. Wie erreichen Sie auch diese Generation, die sogenannte Generation Z?
Ich versuche, den Konfirmanden ein verlässliches Gegenüber zu sein. Ich erwarte keine Leistung, keine „richtigen“ Antworten, vergebe ja keine Noten. Wenn wir mit einem Bibeltext kommen, sagen wir: „Wir glauben, darin geht es auch um euch!“ Wir geben ihnen nicht die Lutherbibel in die Hand, sondern nehmen eine für sie verständlichere Übersetzung. Und wir sagen ihnen, dass sie nichts glauben müssen, sondern alles hinterfragen dürfen. Wir wünschen ihnen einen „erwachsenen“ Glauben, schon im jugendlichen Alter.
Wie findet diese Generation in Ihrer Gemeinde einen Ort der Zusammengehörigkeit?
Mit Frauke Eifler haben wir eine tolle Jugendmitarbeiterin, eine echte Vertrauensperson für die Jugendlichen. Ich denke aber z.B. auch an Heiligabend. Um 23 Uhr hatte sich eine Gruppe Jugendlicher verabredet, um in den Gottesdienst zu kommen. Ich glaube, sie mögen, dass sie sich hier treffen und hinterfragen können: „Wie bringe ich mich und mein Leben in diese Welt ein?“.
Stichwort Klimawandel. Haben Ihre Kinder an den Freitagsdemos teilgenommen?
Ja. Einmal, in den Ferien, „durfte“ ich sogar mit. Und wir haben Zuhause viel darüber nachgedacht. Der Weihnachtsbaum stand zur Disposition. Wir haben uns dann doch dafür entschieden. Wir haben kein Auto mehr, den Fleischkonsum reduziert, kaufen auf dem Markt ein mit „Tüten“, die meine Frau aus meinen alten Hemden genäht hat. Wir versuchen so, etwas zu tun, und das kommt ganz wesentlich auch durch unsere Kinder.
Der Klimawandel bestimmte auch Ihre Predigt am vergangenen Heiligabend.
Ja, in zweierlei Hinsicht: Die Temperaturen weltweit steigen und die Temperaturen in unserem Miteinander sinken. Das gehört für mich zusammen. Ich habe einen Eisbären und ein Walross an die Krippe gestellt. Sie standen für die Frage: Sind wir bereit, für unsere Mitgeschöpfe Verantwortung zu übernehmen? Das war der eine Aspekt. Der andere ist mindestens genau so wichtig: Das Klima in unserer Gesellschaft. Der Ton des Aufgeregten, des sich gegenseitigen Beschimpfens, der Respektlosigkeit. Mit Worten, von denen ich dachte, dass sie in Deutschland nie wieder gesagt werden, wie „Du Jude“, „Du Schwuli“. Das sagt man nicht. Punkt.
Auch vor dem Hintergrund des sich ausbreitenden Antisemitismus.
Als ich hier anfing, habe ich den Internationalen Holocaust Gedenktag, den 27. Januar, gleich zu einem jährlichen Gottesdienst-Datum gemacht. Wir haben Musik der Synagoge gehört oder zum ersten Mal öffentlich Gedichte von Häftlingen aus dem KZ Fuhlsbüttel verlesen. Dazu waren Angehörige aus Schweden extra angereist. Wir haben über die Zwangsarbeit im Kettenwerk an der Essener Straße gesprochen, über die unfassbaren Geschehnisse der sogenannten „Euthanasie“ im Krankenhaus Ochsenzoll – damals die „Irrenanstalt“ - grausam!
Und heute? Menschen jüdischen Glaubens haben uns Deutschen wieder zugetraut, dass sie hier wieder leben, arbeiten und ihren Glauben ausüben können. Es erschüttert mich, dass sie nun wieder Angst haben müssen. Das habe ich verschiedentlich auch in Gottesdiensten thematisiert: „Stell’ dir mal vor, du kommst am Sonntag zur Kirche und musst erst mal durch ein Spalier von Polizisten. Was macht das mit dir? Das ist doch grauenhaft!“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief in seiner vergangenen Weihnachtsansprache die Bürger zu mehr Zivilcourage auf. Was sagen Sie dazu?
Es fängt damit an, dass wir aufpassen müssen, wie wir miteinander sprechen. Ich glaube fest daran, dass Sprache nicht nur Realität beschreibt, sondern auch Wirklichkeiten bildet. Man spricht nicht von „Dementen“ (sondern Menschen mit Demenz), man sagt nicht „Ey, bist du behindert?“. Wenn ich Beschimpfungen höre, lasse ich das nicht durchgehen, sondern frage: „Was haben Sie gerade gesagt? Wie kommen Sie darauf? Was meinen Sie damit?“ Mein Schwager, gebürtiger Amerikaner dunkler Hautfarbe, er lebt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland, sagte kürzlich: „Ich muss mich immer erst mal beweisen und besser sein als andere, damit die Menschen überhaupt sehen, wer ich bin. Und das wird immer schlimmer.“ Es macht mir Sorge, dass wir diesen subtilen Alltagsrassismus gar nicht mehr bemerken.
Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus.
Wir sind in Hamburg inzwischen deutlich unter 30 Prozent evangelische Christen. Also eine Minderheit. In meiner Gemeinde haben wir in den knapp 20 Jahren meines Hierseins nominell jährlich ein Prozent der Mitglieder verloren. Es sind jetzt noch 3.700. Man kann das beklagen. Ich betrachte das eher von einer anderen Seite. Wir haben rund 100 Besucher pro Gottesdienst, das ist für Hamburg eine ganz ordentliche Zahl. Und auch, wenn ich alle unsere anderen Angebote zusammennehme, kommen wir nicht wirklich auf 3.700 Besuchende… Es gibt also offenbar eine große Gruppe von Menschen, die uns nicht „braucht“, aber durch ihre Zugehörigkeit zeigt: „Es ist gut, dass es euch gibt. Ich vertraue euch, dass ihr gute Arbeit macht.“
Was war das Einschneidende in Ihrem Leben? Wie hat es Sie geprägt?
Na ja, ich bin als relativ junger Mensch Waisenkind geworden. Mit meinem Bruder bei meiner Tante, die selbst drei Kinder hatte, aufgewachsen. Das war eine wahnsinnig große Leistung von ihr! Ich empfinde starke Dankbarkeit dafür, dass ich dadurch doch Familie erleben durfte. Sie war es auch, die fragte: „Möchtest du nicht Klavier spielen?“ und die die Anlagen, die in mir waren, gefördert hat.
Stichwort Dankbarkeit. Was macht das Leben für Sie lebenswert?
Die Zuneigung meiner Familie. Es bleibt ein Wunder, dass man auch über die Jahre trotz seiner „Macken“ geliebt bleibt.
Was liebt Ihre Frau - Kantorin und Organistin in Ihrer Gemeinde - an Ihnen?
Sie hat mal gesagt: „Mit dir ist es so herrlich unspektakulär.“ Wenn ich das erzähle, dann gucken alle immer ganz irritiert… Ich glaube, sie hat damit gemeint, dass wir uns aufeinander verlassen können und seit 16 Jahren in eine Richtung segeln. Wir sind einfach miteinander.
Wen würden Sie gern mal treffen?
Den Musiker Konstantin Wecker. Und ihn fragen, wie man es schafft, auch nach 40 Bühnenjahren immer noch neue großartige Texte zu schreiben. „Die Kunst des Scheiterns“ hat er seine Biographie genannt. Das ist mir sehr sympathisch.
Verraten Sie uns abschließend Ihre Lebensphilosophie?
Seit meiner Kindheit bin ich leidenschaftlicher Chorsänger. Die Musik ist die Quelle meiner Inspiration für Körper, Geist und Seele. „Ich will dem Himmel singen mein Leben lang“ sagt der 104. Psalm.
Steckbrief:
Tobias Götting wurde 1968 in Hamburg geboren. Er studierte dort evangelische Theologie. Nach Stationen an der Hauptkirche St. Michaelis und in der Kirchengemeinde Eimsbüttel ist er seit 2001 Pastor der Ev. Luth. Kirchengemeinde Ansgar in Hamburg-Langenhorn. Die seelsorgliche Betreuung dreier Seniorenzentren einer seiner Schwerpunkte. Seit 2014 ist Götting Vorsitzender der „Alzheimer Gesellschaft Hamburg e.V.“. 2017 wurde er in den „Arbeitskreis Ethik der Deutschen Alzheimer Gesellschaft“ berufen. Regelmäßig schreibt er Andachten für den NDR. Er ist mit der Kantorin und Organistin der Gemeinde, Julia Götting, verheiratet. Das Paar hat eine Tochter (15) und einen Sohn (13).